Die Konzentrations- und Todeslager
In den letzten drei Jahrzehnten ist das Musizieren in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Dies ist vor allem auf zeitgenössische Aufführungen von Ghetto- und Konzentrationslagern (KZ-Liedern) sowie von Kompositionen aus Theresienstadt, wie zum Beispiel die Uraufführung von Viktor Ullmanns Oper Der Kaiser von Atlantis oder der Tod dankt ab 1975 in Amsterdam. Sie ist auch den Memoiren der überlebenden Musiker sowie Filmen wie Daniel Monns Spiel auf Zeit (1980) und Roman Polanskis Der Pianist (2002) zu verdanken. Es ist jedoch wenig bekannt, dass Musik aller Arten, Stile und Genres ein grundlegender Bestandteil des Lebens in den Konzentrationslagern war, auch in den Todeslagern. Das wirft die Frage auf, wie unter diesen Umständen überhaupt Musik entstehen konnte und welche Funktionen und Bedeutungen die Musik in den Lagern hatte.
Musik auf Kommando
Seit der Errichtung der ersten Konzentrationslager im Jahr 1933 befahlen die Lagerwächter den Häftlingen routinemäßig, beim Marschieren, bei Übungen oder bei Bestrafungsaktionen zu singen. Dies geschah, um die Häftlinge zu verspotten, zu demütigen und zu disziplinieren. Wie Eberhard Schmidt in Sachsenhausen erlebte, lieferten Häftlinge, die sich nicht an die Regeln hielten oder sie falsch ausführten ('Im Gleichschritt! Marsch! Singen!') der SS einen Vorwand für willkürliche Schläge:
Wer das Lied nicht kannte, wurde geprügelt. Wer zu leise sang, wurde geprügelt. Diejenigen, die zu laut sangen, wurden geschlagen. Die SS-Männer schlugen brutal zu.
Meistens wurden die Häftlinge gezwungen, nationalsozialistische Gruppen- und Soldatenlieder, aber auch SS-Volkslieder und Märsche vorzutragen. Darüber hinaus mussten sie Lieder mit symbolischem Wert für einzelne Häftlingsgruppen singen, um diese zu demütigen. So wurden Kommunisten und Sozialdemokraten aufgefordert, Lieder der Arbeiterbewegung zu singen; religiöse Menschen mussten religiöse Lieder ihrer Konfession singen.
Über die in einigen Lagern installierten Lautsprecher wurde Musik aus Radiosendungen oder Plattenspielern abgespielt. Neben Propagandareden, Militärmärschen und "deutscher" Musik spielten die Wachmannschaften in Dachau 1933-1934 Richard Wagner, um politische Gegner "umzuerziehen". In Buchenwald, das 1937 eingerichtet wurde, wurden über Lautsprecher nächtliche Konzerte aus dem deutschen Rundfunk übertragen, um die Häftlinge um den Schlaf zu bringen. Außerdem wurde Marschmusik gespielt, um die Geräusche der Hinrichtungen zu übertönen.
Auf Anweisung des Lagerkommandos wurden Musikensembles aus inhaftierten Berufs- und Amateurmusikern gebildet. Häftlingschöre waren vor allem in den ersten Jahren des Lagersystems weit verbreitet, während nach Kriegsausbruch Häftlingskapellen das Musikleben der größeren Konzentrationslager prägten. Erste dieser offiziellen Lagerorchester gab es bereits 1933, beispielsweise in den frühen Konzentrationslagern Dürrgoy, Oranienburg, Sonnenburg und vermutlich auch in Hohnstein. Nach der Umstrukturierung des Lagersystems - als die erste Generation der Konzentrationslager (mit Ausnahme von Dachau) aufgelöst und nach 1936 durch neue, größere ersetzt wurde - gab es (noch vor dem Krieg) Häftlingsorchester in Sachsenhausen (als Fortsetzung der Kapelle in Esterwegen), Buchenwald und Dachau. Mit der Ausweitung des Lagersystems und der Gründung eines Satellitensystems von Außenlagern gab es in fast allen Hauptkonzentrationslagern, größeren Außenlagern und in einigen Todeslagern offizielle Orchester. Manchmal gab es mehrere Ensembles an einem Ort, wie in Auschwitz, darunter eine Blaskapelle mit 120 Musikern und ein Sinfonieorchester mit 80 Musikern. Ihr Repertoire umfasste Märsche, Lagerhymnen, Salonmusik, Unterhaltungs- und Tanzmusik, Volkslieder, Film- und Operettenmelodien, Opernauszüge und klassische Musik wie Beethovens fünfte Symphonie. Bei verschiedenen Gelegenheiten entstanden neue Kompositionen und originelle Bearbeitungen, wie zum Beispiel in Auschwitz der "Arbeitslagermarsch" von Mieczyslaw Krzynski und Henryk Krol. Und obwohl laut Benedikt Kautsky deutsche Militärmärsche verboten waren, "war man im KZ Buchenwald und in Auschwitz nicht pingelig, wo man mehrere alte preußische Formalmärsche hören konnte".
Das Repertoire der offiziellen Lagerorchester hing von den Vorlieben der SS, ihrem musikalischen Niveau und den Anlässen ab, zu denen die Ensembles auftraten. Die Häftlingskapellen spielten nicht nur Sonntagskonzerte für kulturell interessierte SS-Offiziere, sondern auch - mit Zustimmung der Offiziere - für Mitgefangene. Bei Lagerinspektionen präsentierten stolze Kommandanten die Ensembles als "besondere Attraktionen" und als Beweis für die vorbildlichen Leistungen "ihres" Lagers. Die Hauptaufgaben der Musiker waren jedoch die musikalische Untermalung der ein- und ausgehenden Arbeitskommandos an den Lagertoren und die musikalische Begleitung von Erschießungen, die zur Abschreckung vor der gesamten Lagerbevölkerung inszeniert wurden. In den Vernichtungslagern, insbesondere in Birkenau, spielten die Häftlingsorchester unter unmenschlichsten Bedingungen, was bei einigen überlebenden Musikern für den Rest ihres Lebens Schuldgefühle und Depressionen auslöste. Einige Orchester mussten im Rahmen des so genannten Selektionsverfahrens spielen, um den neu ankommenden Häftlingen vorzugaukeln, dass ihnen nicht der unmittelbare Tod drohte. Einige Orchestermitglieder mussten auf Befehl der SS sogar in der Nähe des Krematoriums spielen. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass die Ankunft neuer Transporte, die Selektionen oder der Gang in die Gaskammer nicht grundsätzlich, sondern nur gelegentlich musikalisch begleitet wurden.
Schließlich wurden Lagerkapellen und andere Häftlingsmusiker aufgefordert, zur privaten Unterhaltung der Wärter zu spielen. Einerseits wurde den Musikern ein Sonderstatus zugestanden, der ihnen einen gewissen Schutz vor Willkürmaßnahmen bot, andererseits aber auch überlebenswichtige Privilegien: "mildere" Arbeitseinsätze, bessere Kleidung oder zusätzliche Essensrationen. In diesem Sinne diente das Musizieren als Überlebensstrategie. Andererseits führte die Nähe zwischen den Musikern und den Tätern zu Selbstbezichtigungen, zum Neid der Mitgefangenen und zu einem gefährlichen Abhängigkeitsverhältnis zur SS.
Musik, die von den Häftlingen initiiert wurde
Im Gegensatz zu den bereits erwähnten Beispielen des erzwungenen Musizierens spielten und komponierten die Häftlinge auch aus eigenem Antrieb Musik für sich und ihre Mitgefangenen, wobei die Musik als kulturelle Überlebenstechnik und als Mittel des psychischen Widerstands diente: Sie half, die lebensbedrohliche Situation im Lager zu überwinden und den Terror zu mildern. Durch einfaches Summen oder Pfeifen konnten Angst und Einsamkeit in der Einzelhaft bekämpft werden. Die Musik half den Häftlingen, ihre Identität und ihre Traditionen zu bewahren, und wirkte der zerstörerischen Absicht der SS entgegen, die sich nicht nur gegen die physische Existenz der Häftlinge, sondern auch gegen ihre Kultur richtete.
Schon in den frühen Konzentrationslagern musizierten die Häftlinge für sich selbst. Allerdings gab es zu dieser Zeit nur wenige Instrumentalgruppen. Vorherrschend war der Gruppen-, Solo- und Einzelgesang von verschiedenen Liedern, die die Häftlinge in die Lager mitbrachten. Die ersten Lagerlieder und KZ-Hymnen, wie das bekannte 'Moorsoldatenlied', wurden von den Häftlingen geschrieben. Diese Lieder konnten jederzeit gesungen werden und erforderten nur wenig Übung oder Vorbereitung. Das gemeinsame Singen vermittelte ein Gefühl der Gemeinschaft und Zugehörigkeit. In der Anfangsphase des Lagersystems dominierte die Amateurmusik der Jugend- und Arbeiterbewegung, da die meisten Häftlinge zu dieser Zeit politische Gegner der Nazis waren. Professionelle Musiker waren in diesen Anfangsjahren die Ausnahme. Ab 1939, nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, wuchsen das Niveau und die Vielfalt der musikalischen Fähigkeiten. Von diesem Zeitpunkt an wurden immer mehr Häftlinge aus verschiedenen Ländern und Gesellschaftsschichten in die Lager deportiert, darunter ein höherer Anteil an Berufsmusikern, Künstlern und Intellektuellen. Mit dem Anstieg der Häftlingszahlen wuchs auch der Umfang der musikalischen Veranstaltungen, und die unterschiedlichen nationalen Traditionen der Häftlinge begannen das Musikleben in den Lagern zu bereichern.
Ab 1942-43 waren die musikalischen Aktivitäten am weitesten verbreitet. In dieser Zeit wurden die Häftlinge in der Rüstungsindustrie eingesetzt, und am 15. Mai 1943 gewährte die SS ein Prämiensystem (Prämiensystem). Gleichzeitig wurde das KZ-System durch den Bau von Außenlagern erweitert. In Verbindung mit dem Prämiensystem brachte dies den Häftlingen gewisse "Privilegien" seitens der SS. Diese Zugeständnisse dienten natürlich in erster Linie der Steigerung der Arbeitsleistung und der Verhinderung von Unruhen - und betrafen in jedem Fall überwiegend deutsche Häftlinge, Häftlingsfunktionäre und "Prominente". Durch solche Zugeständnisse wurde es jedoch leichter, Instrumente und Noten von außen zu beschaffen, Lagerlieder oder andere Kompositionen zu schaffen, einige Musikgruppen zu gründen, Konzerte zu geben und andere kulturelle Veranstaltungen wie Theater- oder Kabarettaufführungen zu organisieren.
Entgegen der weit verbreiteten Meinung waren diese Aktivitäten nur in einigen Fällen illegal, nicht in allen. Wenn die Musik mit politischen oder anderen verbotenen Inhalten verbunden war, war sie illegal: In diesen Fällen konnte man nur heimlich und unter Angst vor Entdeckung spielen. So wurde beispielsweise am 7. November 1933 im Börgemoor heimlich der 16. Jahrestag der Oktoberrevolution begangen. Jahrestag der Oktoberrevolution. Größere musikalische Veranstaltungen (Block- oder Lagervorstellungen) konnten nur mit Zustimmung des Lagerleiters und mit Unterstützung von Funktionären organisiert werden. Eine der ersten Lageraufführungen wurde von den Häftlingen am 27. August 1933 in Börgermoor organisiert. Der von dem Schauspieler Wolfgang Langhoff geplante 'Circus Konzentrazani' wurde als Reaktion auf die nächtlichen Schläge durch die SS aufgeführt. Diese Veranstaltung umfasste Musik, Humor und Artistik als Mittel zur "allgemeinen Ermutigung" der Häftlinge. Auch die Lagerwachen amüsierten sich über diese Form der Unterhaltung. Bei dieser Veranstaltung wurde das "Moorsoldatenlied" zum ersten Mal aufgeführt. In einigen Lagern wurden solche Veranstaltungen regelmäßig abgehalten. In einem Block in Buchenwald, in dem ein Kino eingerichtet worden war, fanden zwischen August 1943 und Dezember 1944 insgesamt 27 so genannte "Konzerte" statt, bei denen Ausstellungen, Sketche und künstlerische Darbietungen sowie Kabarett- und Theaterausschnitte von verschiedenen Häftlingsgruppen aufgeführt wurden. Solange der "normale" Lagerbetrieb nicht beeinträchtigt wurde, wurden andere musikalische Aktivitäten entweder stillschweigend von der SS geduldet oder fanden auf halblegale Weise statt.
Im Rahmen der begrenzten Freiheit, die die Lagerwachen und die Funktionäre gewährten, stellten die Häftlinge eine breite Palette von Musikdarbietungen zusammen. Musiziert werden durfte nur in der eingeschränkten "Freizeit", d. h. nach dem Abendappell oder an den Sonntagen, die meist arbeitsfrei waren. Im Stammlager Auschwitz beispielsweise gab es Musikveranstaltungen von zwei Gesangsquartetten und einer kleineren Gesangsgruppe sowie von drei Chören. Musik wurde auch von Instrumentalisten gespielt. Dies geschah in einer unmenschlichen Atmosphäre, die künstlerischer Betätigung abhold war und von ständigem Hunger, psychischen und physischen Misshandlungen, Krankheiten, Epidemien, Terror und Todesangst geprägt war. Im Gegensatz zum Musizieren auf Kommando, das die Häftlinge fast täglich ausüben mussten, bildete die musikalische Betätigung in Eigeninitiative der Häftlinge einen Höhepunkt des Lagerlebens. Je größer jedoch die sozialen Unterschiede zwischen den Häftlingsgruppen in einem Lager waren, desto mehr spielte die Musik eine Rolle bei der Abgrenzung der privilegierten Häftlinge (d. h. Häftlingsfunktionäre, "prominente" Häftlinge und deren engstes Umfeld) von den weniger privilegierten. Die meisten Häftlinge kämpften damals ums nackte Überleben.
Abschluss
Das musikalische Leben in den Konzentrations- und Vernichtungslagern war von ausgesprochen zweischneidiger Natur. Einerseits war die Musik für die Häftlinge ein Mittel zum Überleben, andererseits war sie für die SS ein Instrument des Terrors. Das Gefängnispersonal missbrauchte die Häftlingsmusiker für seine Zwecke. Mit den täglich erzwungenen musikalischen Darbietungen trugen sie dazu bei, die Willenskraft der Häftlinge zu brechen und sie menschlich zu entwürdigen. So diente die Musik in den nationalsozialistischen Lagern als notwendige Ablenkung und Methode des kulturellen Überlebens für die Opfer und gleichzeitig als Mittel der Beherrschung für die Täter.
Von Guido Fackler
Sources
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Fackler, Guido: „Des Lagers Stimme” – Musik im KZ. Alltag und Häftlingskultur in den Konzentrationslagern 1933 bis 1936. Mit einer Darstellung der weiteren Entwicklung bis 1945 und einer Biblio-/Mediographie (DIZ-Schriften, Bd. 11). Bremen: Edition Temmen, 2000.
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